04 | Der Untergang der Diskussionskultur

oder: Could You Stop Being Self-Centered for just One Moment?, oder: Worum es in Facebook-Gruppen geht.

Neulich habe ich alle sechs Staffeln Lost angeschaut. Gerade die letzte Folge, die viele Auflösungen versprach, habe ich dabei gespannt erwartet. Kurz: Die Überlebenden eines Flugzeugabsturzes stranden auf einer einsamen Insel. Diese Insel stellt sich als weniger verlassen heraus als vermutet und so kämpfen die neuen Inselbewohner gegen feindselige Einheimische, übernatürliche Mächte sowie allerhand weiterer Personen, die aus unterschiedlichen Gründen auf die Insel kommen.

Während der Staffeln 1 bis 5 werden zusätzlich zum Plot auf der Insel parallele Erzählstränge eingeführt. Solche, die die Vergangenheit der Protagonisten zeigen und darstellen, inwiefern diese auch in der realen Welt bisher völlig lost waren. Und solche, die eine (wahrscheinlich) fiktive Zukunft der Überlebenden in der realen Welt fernab der Insel zeigen, in der sie immer noch verlorene Seelen sind. In Staffel 6 ändern sich diese Parallelgeschichten. Sie zeigen jetzt, dass die Überlebenden sich auch in der real world ohne Flugzeugunglück auf irgendeine Weise kennengelernt hätten. Dieser Erzählstrang stellt sich im Laufe der letzten Folge als ein Wiedersehen in einer Kirche heraus.  Während des Abspanns sieht man noch einmal die Reste des abgestürzten Flugzeugs am Strand wie sie in der allerersten Folge zu sehen waren.

Mein Drang nach Eindeutigkeit hat dieses sehr offene Ende der Serie nicht gut verkraftet. Aus diesem Grund habe ich versucht auf unterschiedlichen Lost-Foren eine Antwort auf diese ungeklärten Fragen zu finden.

In diesen Foren wurde der eigene Standpunkt  mit Sachlichkeit vertreten. „Die Flugzeugreste, die man während der Endcredits sieht und die Tatsache, dass sich später alle in einer Kirche treffen – die als Pforte zum Himmel gesehen werden kann -, deuten darauf hin, dass keiner der Passagiere den Absturz je überlebt hat, sondern dass die Insel das Fegefeuer darstellt.“. Gegenargumente waren sofort zur Hand: „Nein, wenn dem so wäre, hätte man die Reste des Flugzeugs nicht im Abspann gezeigt, sondern im Hauptteil der letzten Folge, da sie dann ja extrem wichtig für das Verständnis gewesen wären.“ Auf der Basis überzeugender Argumente habe ich meine eigene Interpretation des Finales noch einmal überdacht und meine Meinung geändert.

Als sehr angenehm bei meiner Recherche empfand ich, dass es sich um eine sachliche Diskussion handelte, in der es um Inhaltliches ging. In der Argumentationsgänge plausibel belegt wurden und das gemeinsame Ziel aller Diskutierenden darin bestand, die Kernaussage einer lieb gewonnenen Serie in ihrer Gänze verstehen zu wollen. Hier hat nicht eine einzelne Person die perfekte Interpretation zu liefern beabsichtigt, sondern es wurde durch die gemeinsame Kombination von Gedanken und Schlussfolgerungen mehrerer Lost-Anhänger ein Gesamtbild gezeichnet, das wesentlich mehr zum Verständnis der Serie beiträgt, als dies durch nur eine Person hätte erfolgen können. Quasi Wissenschaft meets Popkultur. Eine derartig angenehme Diskussion hatte ich lange nicht mitverfolgt.

Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich hauptsächlich in Facebook-Gruppen poste bzw. mitdiskutiere.

Ich wünschte, eine solche Argumentationsführung wäre auch in Facebook-Gruppen möglich. Doch unabhängig davon, welches Niveau von intelligenzbezogener und emotionaler Reife ein Gruppenname implizieren mag – ein echte Diskussion kommt hier in der Regel nicht zustande. Eine Abwägung sachlicher Argumente erfolgt hier nicht. Stattdessen kann der 08/15-Facebook-User dem Kuchen mit der leckeren Egoglasur nicht widerstehen. Er will Anerkennung. Er will recht haben. Jeglichen Angriff auf seine Argumente versteht er als Attentat auf die eigene Intelligenz. Das kann er nicht auf sich sitzen lassen! Schnell müssen ein paar Totschlagargumente gefunden werden – zur Not auch solche, die mit dem eigentlichen Sachverhalt nur noch peripher zu tun haben. Auf der Bühne einer Scheindiskussion wird nun Profilierung à la perfection betrieben.

Ein intrinsischer Anreiz, eine authentische Bemühung darum, das eigene Blickfeld hinsichtlich eines bestimmten Themas zu erweitern, fehlt völlig. Der Otto-Normal-Facebook-Nutzer möchte seinen Namen in schwarzen Kalligraphielettern sehen. Auf einer figurativen Ehrenurkunde, die ihm bestätigt:„Herzlichen Glückwunsch! Sie haben Recht gehabt“. Diese kann er an der Wand des eigenen Selbstwertzimmers platzieren. Fährt er mit dem Blick über seine Urkunden, jene Situationen, in denen er recht hatte, lässt sich die eigene Minderwertigkeit unter Umständen einen Moment lang vergessen. Ein herrliches Gefühl.

Als Einzelkämpfer ist der Selbstwertlose schließlich darum bemüht, seine eigenen Minderwertigkeitsgefühle durch Gewinnsituationen zumindest temporär aus seinem Gedächtnis zu streichen. Aber er sieht nicht, dass die meterhohen Mauern dieser Ichbezogenheit  dafür sorgen, dass ein echter zwischenmenschlicher Kontakt, in dem es nicht um Gewinnen und Verlieren, sondern um einen echten Austausch geht, gar nicht mehr zustande kommt. Häufig leben die unterschiedlichen Kommentierer im Facebook-Gruppen-Universum nebeneinander her und der Pseudo-Gedankenaustausch dient einzig dazu, die eigene Brillanz aufzuzeigen. Welches Gedankengut der Andere zum Thema beiträgt, wie diese Gedanken aus der Perspektive eines Anderen den Winkel des eigenen Denkens modifizieren und erweitern könnten, spielt hier keine Rolle. Es gilt, seine Meinung bis zum Ende vertreten und durchsetzen zu können. Ein Eingeständnis darüber, dass man bestimmte Aspekte in seiner Meinungsfindung bisher nicht in Betracht gezogen hat oder seine Meinung gar revidiert: der Super-GAU des Internet-Egos. Eine derartige Persönlichkeitsschwäche im World Wide Web dann auch noch schriftlich festzuhalten, sodass andere Nutzer später beweisen könnten, dass man nicht in allen Situationen richtig lag: Undenkbar.

Ich streite nicht ab, dass es schmeichelnd sein kann, von Anderen als kompetent empfunden zu werden. Dies ist sicher ein sehr menschliches Gefühl. Aber wenn die Gier nach Selbstwertsteigerung Überhand nimmt, wenn nicht mehr klar erkennbar ist, wann das Ich ausgeschaltet werden muss, dann wird es gefährlich.
Wer unterschiedliche Meinungen nicht als Bereicherung, sondern als Bedrohung der eigenen Intelligenz empfindet, und nicht mehr sachlich diskutieren kann, wirft dem bereits adipösen Narzissmusungeheuer 2.0 noch mehr hochwertige Nahrung in den sabbernden Schlund. Und wer nicht erkennt, dass dies ein Ausdruck eigener Versagensängste ist, die nur auf der Ebene der eigenen Person behoben werden können, trägt aktiv zum Verfall jeglicher Diskussionskultur und des zwischenmenschlichen Austauschs bei.

(c) Pixabay

5 Gedanken zu “04 | Der Untergang der Diskussionskultur

  1. Das ist der Hauptgrund, warum ich auf FB möglichst nicht diskutiere oder auch nur Statements hinterlasse und mich dort überwiegend im Rahmen des Entertainment bewege (manchmal rutscht mir doch was raus…).

    Ärgerlicherweise wird „einem“ das heute auch noch so beigebracht. Im Rahmen meines Abendstudiums gab es ein Kommunikationsseminar. Dabei wurden zwar auch solides Diskussionswerkzeug vermittelt (z.B. „ZDF“, Zahlen, Daten, Fakten), aber der Einsatz war klar: Die eigene Meinung untermauern, die Meinung der anderen Partei untergraben, nicht jedoch Wahrheitsfindung. Vielleicht sollte das Seminar nicht verallgemeinert werden, aber es scheint exemplairsch für die heutige Diskussionskultur zu stehen. Was sehne ich mich nach Diskussionsrunden antiken Vorbildes, als eine Diskussion ergebnisoffen geführt wurde. „Ich denke, es ist so und so. Ich möchte gerne mit euch darüber diskutieren, ob ich mit dieser Meinung recht habe“.

    Ich möchte ergänzen: Selbst wenn dir in deiner Meinung nicht widersprochen wird, sondern deine Meinung sogar geteilt wird (also, jetzt nicht im FB-Sinne sondern im ursprünglichen Sinne), spricht da oft der Ego-Trip: „Du bist ganz meiner Meinung, wir sind schon zwei tolle Hechte!“. Der Fisch stinkt!

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  2. Ja, das stimmt. Von diesen Seminaren zur „Gesprächsführung“ hab ich auch schon gehört. Man sollte es eher „Manipulationsführung“ nennen, denn es ist wie du sagst – es geht darum dem Anderen auf besonders tolle Weise klarzumachen, dass man Recht hat und nicht, dass man durchaus geteilter Meinung sein kann und das auch so in Ordnung ist. Ätz!

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  3. Die übersteigerten Egos gibt es erfahrungsgemäß auch in Blogs und Foren – die Foren werden nur besser moderiert. Ja, sicher: Insgesamt sind sie natürlich stärker Themen- und weniger personenbezogen, als Facebook.

    Das „Diskussionsproblem“ bei Facebook sehe ich aber eher in der Beschaffenheit der Plattform an sich: Versuch mal schnell, irgendein Thema auf irgendeiner FB-Seite wiederzufinden, in dem du vor zwei oder drei Monaten mitdiskutiert hast… Alles ist schnellebig, Threads bleiben nicht lange sichtbar, und brauchbare Suchfunktionen fehlen ebenfalls.

    Texte, die mir wichtig sind und die kein Lese-Fastfood sein sollen, schreibe ich bei Facebook inzwischen lieber als „Notiz“, denn als „Status“.

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  4. Danke für den tollen Beitrag. Ich habe es sehr genossen etwas so sprachlich anregendes zu lesen. Eigentlich viel zu schade für das schnelllebige Facebook. Ich kommentiere auch eher selten Beiträge anderer, denn oft artet dies schnell in Streit aus, weil sich jeder sofort angegriffen fühlt, wenn man ehrlich seine Meinung sagt. Objektives Diskutieren ist scheinbar ausgestorben. Lustigerweise habe ich damals auch stundenlang in Lost-Foren gestöbert, um dieses unbefriedigende Ende zu verkraften. Dies ist mir auch tatsächlich gelungen. Es gibt sie irgendwo, die gehirnstimulierenden Threads, man muss nur suchen.

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  5. Danke! 🙂

    Ja, das Diskutieren wird irgendwie immer schwerer. Tatsächlich glaube ich – auch wenn dies sehr weit hergeholt scheint – dass die Qualität der Erziehung immer schlechter wird und dadurch vermehrt Menschen mit massiven Minderwertigkeitsproblemen anzutreffen sind. Mit diesen lässt es sich schwer diskutieren, weil sie die Diskussion entweder als Ego-Boost missbrauchen wollen oder aber sich aufgrund der fehlenden Selbstsicherheit (was nicht ihre Schuld ist, sondern eher die der falschen Erziehung) zu schnell angegriffen fühlen. In jedem Fall aber sind sie in ihrem Ich gefangen. Dass eine Diskussion zunächst erst einmal dazu dient, einen Gegenstand von unterschiedlichen Seiten zu beleuchten, nehmen sie gar nicht mehr wahr.

    Sehr witzig, dass du das Lost-Ende auch nicht so gut weggesteckt hast. Ich finde es eigentlich gut, dass es keine eindeutige Antwort auf alle wichtigen Fragen gab. Das wäre vielleicht langweilig. Aber ich wollte trotzdem einmal schauen, welche Interpretationen wahrscheinlich und welche weniger wahrscheinlich sind.

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